Ein Gastbeitrag von Dr. Herbert Okolowitz
Ich bin Herbert, gelernter Philosoph und Betreiber von Griffl.org, wo ich philosophische Themen rund um Ethik und KI „einfach erklärt“ aufbereite. Ich jage nicht selbst, aber ich interessiere mich seit Jahren für die ethischen Fragen rund um unser Verhältnis zu Tieren. Die Jagd steht dabei immer wieder im Zentrum heftiger Debatten.
In diesem Beitrag möchte ich euch mitnehmen auf eine kurze Zeitreise: Wie haben Menschen über Jahrhunderte hinweg über die Jagd und die ethische Dimension im Umgang mit Tieren nachgedacht? Nicht um euch zu „belehren“, sondern um zu zeigen, welche Fragen sich Philosophen gestellt haben und welche davon heute noch relevant sind, wenn man morgens in den Wald geht.
Am Ende werdet ihr sehen: Die Diskussion ist älter als das Jagdrecht, komplexer als Tierschutzgesetze, und ehrlicher als viele moderne Debatten vermuten lassen.

Die Antike: Als die Jagd noch selbstverständlich war
Vor 2.500 Jahren war Jagen kein Hobby. Es war Überlebensstrategie, Fleischbeschaffung, manchmal Mutprobe. Die alten Griechen hatten keine Zweifel daran, dass Menschen über Tiere verfügen dürfen. Aber schon damals gab es erste Risse in dieser Gewissheit.
Aristoteles, der große Philosoph und Naturforscher, war fasziniert von Tieren. Er sezierte sie, beobachtete ihr Verhalten, beschrieb ihre Intelligenz. Manche Tiere, so schrieb er, zeigen erstaunliche Klugheit, fast wie Menschen. Aber dann zog er eine klare Grenze: Tiere können nicht denken wie wir. Sie handeln aus Instinkt, nicht aus Vernunft. Deshalb, so sein Schluss, sind sie für den Menschen da. Zum Essen. Zum Arbeiten. Zum Jagen.
Diese Sichtweise setzte sich durch, mit einer Konsequenz, die bis heute nachwirkt: Wer keine Vernunft hat, hat auch keine Rechte.
Aber es gab Gegenwind. Plutarch, ein Denker aus dem 1. Jahrhundert, stellte eine unbequeme Frage: Warum glauben wir eigentlich, dass nur Vernunft moralisch zählt? Tiere, so argumentierte er, zeigen Mut, Treue, sogar Mitgefühl. Sie leiden, sie haben Angst, sie wollen leben. Ist das nicht genug, um sie zu schützen?
Plutarch war ein früher Vegetarier aus ethischen Gründen. Seine Position blieb eine Minderheitenmeinung, aber sie zeigt: Die Frage, ob wir Tiere töten dürfen, ist keine Erfindung moderner Tierrechtler. Sie ist uralt.
Einen ausführlichen Einblick in die Geschichte der Tierethik erhaltet ihr unter https://griffl.org/entwicklung-der-tierethik/.
Mittelalter bis Aufklärung: Die Kirche und die Maschine
Im Mittelalter änderte sich wenig. Die christliche Theologie übernahm Aristoteles‘ Hierarchie: Der Mensch als Krone der Schöpfung, die Tiere als Geschenk Gottes für unsere Zwecke. Jagen war legitim, solange es im Rahmen blieb und man keinem anderen Jäger ins Gehege kam. Thomas von Aquin, der einflussreichste Theologe des Mittelalters, sah kein Problem darin, Tiere zu töten. Sie hätten keine unsterbliche Seele, also keine moralische Bedeutung.
Dann kam René Descartes im 17. Jahrhundert und trieb es auf die Spitze. Tiere, so behauptete er, sind Maschinen. Komplizierte, aber seelenlose Automaten. Wenn ein Hund jault, ist das kein Schmerz, sondern nur ein mechanisches Signal, wie das Quietschen eines Rades.
Diese Idee klingt heute absurd, aber sie hatte praktische Konsequenzen: Wenn Tiere nichts fühlen, kann man mit ihnen machen, was man will. Für Jäger war das eine bequeme Rechtfertigung. Aber auch eine, die selbst damals nicht alle überzeugend fanden.
Die Wende: Leiden zählt mehr als Denken
Im 18. Jahrhundert begann sich etwas zu verschieben. Die Aufklärung brachte neue Fragen: Was macht moralisches Handeln aus? Ist es wirklich nur Vernunft? Oder gibt es etwas Grundlegenderes?
Jeremy Bentham, ein englischer Philosoph, formulierte 1789 einen Satz, der die Debatte veränderte:
„Die Frage ist nicht: Können sie denken? Oder: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?“
Plötzlich war nicht mehr die Vernunft entscheidend, sondern die Leidensfähigkeit. Und daran gibt es bei Tieren keinen Zweifel: Sie fühlen Schmerz. Sie haben Angst. Sie wollen dem Tod entkommen.
Bentham sprach sich gegen unnötiges Tierleid aus, aber er war kein radikaler Jagdgegner. Sein Argument war pragmatischer: Wenn wir Tiere töten, sollten wir ihr Leiden minimieren. Ein schneller, sauberer Tod ist ethisch anders zu bewerten als ein langer, qualvoller.
Diese Idee findet sich heute im Tierschutzrecht wieder: Das Gebot des „waidgerechten“ Schusses, das Verbot von Totschlagfallen, die Forderung nach Nachsuche. All das basiert auf der Überzeugung, dass Leiden zählt, auch wenn das Töten selbst akzeptiert wird.
Moderne Tierethik: Die radikalen Fragen
Im 20. Jahrhundert wurde die Debatte grundsätzlicher. Peter Singer veröffentlichte 1975 sein Buch Animal Liberation und löste einen Sturm aus. Seine These: Tiere haben Interessen, genau wie Menschen. Ihr Interesse, nicht zu leiden und zu leben, ist moralisch relevant. Wer das ignoriert, betreibt „Speziesismus“, eine Diskriminierung aufgrund der Artzugehörigkeit, vergleichbar mit Rassismus.
Singer ist Utilitarist, so wie Jeremy Bentham: Für ihn zählt, wie viel Leid oder Glück eine Handlung verursacht. Töten ist schlecht, wenn es mehr Leid als Nutzen bringt. Jagd zum Vergnügen? Ethisch nicht zu rechtfertigen. Jagd zur Nahrungsbeschaffung? Nur wenn es keine leidärmeren Alternativen gibt, und in modernen Gesellschaften gibt es die meist.
Tom Regan ging noch weiter. Für ihn haben Tiere nicht nur Interessen, sondern Rechte. Sie sind „Subjekte eines Lebens“, sie erleben ihr Dasein, haben Wünsche, Erinnerungen, Zukunft. Wer sie tötet, verletzt ihr fundamentales Recht auf Leben. Nach Regan ist Jagd grundsätzlich unethisch, auch wenn der Tod schmerzfrei erfolgt.
Das sind radikale Positionen, und sie stehen im klaren Widerspruch zur Praxis der meisten Jäger. Aber sie zeigen, wohin die philosophische Debatte geführt hat: weg von der Frage „Darf der Mensch jagen?“ hin zu „Warum sollte er?“
Die Gegenwart: Welche Fragen bleiben?
Heute stehen Jäger in einem Spannungsfeld. Einerseits wird Jagd als Naturschutz, Populationskontrolle und sogar als ethischere Alternative zur Massentierhaltung verteidigt. Andererseits wächst der gesellschaftliche Druck: Tierethiker, Tierschutzorganisationen und auch Teile der Politik fordern strengere Regeln oder sogar Verbote bestimmter Jagdformen.
Die philosophische Geschichte zeigt: Es gibt keine einfache Antwort. Aber sie wirft Fragen auf, die man nicht ignorieren sollte:
- Ist das Leiden des Tieres unvermeidlich? Ein perfekter Blattschuss tötet sofort. Aber wie oft gelingt der? Studien zeigen, dass viele Tiere verwundet fliehen, stundenlang leiden, bevor sie sterben oder gefunden werden. Lässt sich das ethisch rechtfertigen, oder ist es ein systematisches Problem der Jagd?
- Ist die Jagd wirklich notwendig? Manche Argumente für die Jagd beruhen auf ökologischen Gründen: Überpopulation, Waldschäden, fehlende natürliche Feinde. Aber stimmt das immer? In manchen Regionen werden Wildbestände künstlich hochgehalten (Fütterung, Hege), um die Jagd zu rechtfertigen. Ist das noch Naturschutz, oder Selbstzweck?
- Geht es um Nahrung oder um Erlebnis? Historisch war Jagen Nahrungsbeschaffung. Heute braucht niemand in Deutschland Wildfleisch zum Überleben. Die Motivationen sind oft andere: Tradition, Naturverbundenheit, das Erleben von „ursprünglicher“ Lebensweise. Sind diese Gründe stark genug, um das Töten zu legitimieren, oder sind sie nur kulturelle Gewohnheiten, die man hinterfragen sollte?
- Gibt es Alternativen? Verhütung bei Wildtieren, Umsiedlung, natürliche Regulation durch Rückkehrer wie Wölfe – all das sind Optionen, die in manchen Kontexten funktionieren. Sind sie ethisch vorzuziehen, auch wenn sie aufwendiger oder teurer sind?
Kein Plädoyer, sondern ein Panorama
Ich schreibe das nicht, um für oder gegen die Jagd zu plädieren. Ich bin kein Aktivist, sondern mich interessieren philosophische und ethische Fragen. Philosophie bedeutet nicht, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen.
Was die Geschichte der Tierethik zeigt: Die Gewissheiten von gestern sind die Zweifel von heute. Aristoteles‘ Hierarchie, Descartes‘ Tiermaschine, die Annahme, dass nur Vernunft moralisch zählt. All das wurde infrage gestellt, weil Menschen genauer hingeschaut haben. Auf das Leiden der Tiere. Auf die Argumente. Auf die Widersprüche.
Jäger heute stehen in dieser Tradition, ob sie wollen oder nicht. Die Frage ist nicht, ob man die Debatte vermeiden kann. Die Frage ist, wie ehrlich man sie führt.
Vielleicht beginnt Ethik genau da: beim Innehalten. Beim Nachdenken. Beim Abwägen zwischen dem, was man tun kann, und dem, was man tun sollte.
Die 2.500 Jahre alten Argumente für oder gegen die Jagd enden nicht mit einer Antwort. Sie enden mit der Frage: Wie viel wiegt Leben und Leiden, wenn man es selbst in der Hand hält?
Über den Autor: Dr. Herbert Okolowitz ist Philosoph, Lehrbeauftragter für Philosophie und Soziologie an der TH Ulm und Gründer von Griffl.org, wo er ethische und philosophische Themen verständlich aufbereitet. Seine Arbeit verbindet akademische Tiefe mit praktischer Relevanz, ohne Belehrung, aber mit Biss.
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